Projekt Weiss — Eröffnungsrede

Projekt Weiss — Eröffnungsrede

Hier können Sie die Ausstellungs-Eröffnungsrede von unseren Projekt Weiss von Prof. Greta Olson nachlesen. Greta Olson ist Professorin für englische und amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

 

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie hat mehrfach die Meinung geäußert, dass, wenn Michelle Obama natürliche Haare gehabt hätte – also ihre krausen Afrohaare nicht immer geglättet gewesen wären — Barack Obama die Präsidentschaftswahl 2008 gar nicht hätte gewinnen können. Ich glaube, sie hat Recht. Mit einer Frau mit natürlichen Afrolocken an seiner Seite wäre Obama vielen zu fremd und womöglich auch gefährlich erschienen. Diese Anekdote spricht für die Ausdruckskraft von Haaren im Allgemeinen.

Haare sind alles andere als neutral. Haare sind zutiefst politisch und identitätszuweisend. Sie stellen ein ganzes semiotisches System dar, das Informationen über ethnische und schichtbezogene Identität preisgibt, und auch wie viel Geld und Zeit Menschen für ihr Aussehen ausgeben wollen und können. Unsere Frisur sagt über uns aus, wie wir unsere Geschlechteridentität verstehen und interpretieren, wie wir als sexuelle Wesen wahrgenommen werden wollen, wie wir mit Alterungsprozessen umgehen, und ob wir uns eher als konservativ oder progressiv einstufen. Wollen wir uns kompetent, klassisch, trendy, sportlich oder umweltbewusst geben? Das alles wird in unsere Frisur hineininterpretiert.

Hillary Clinton hat daher in einer Rede von 2001 an die AbsolventInnen der Yale Law School eingestanden: “The most important thing I have to say to you today is that hair matters. Your hair will send significant messages to those around you: what hopes and dreams you have for the world.” Daher ihre Mahnung: „Achtet auf eure Haare, denn alle anderen werden es auch tun.“

Wenngleich auch weniger politisch brisant als das Nicht-Glätten von Afrolocken bei Frauen, ist das Tragen von weißen Haaren durchaus polarisierend. Wie die Entscheidung, ein sichtbares Tattoo zu tragen. Zwar genießt der Trend Granny Hair enorme Beliebtheit, vor allem bei hippen Frauen unter 25, mit einem Hashtag und Instagram- und Pinterest-Konten dazu. Amazon berichtet von einer riesigen Steigerung im Verkauf von grauen und silbernen Haarfarbtönen.

Doch die Entscheidung für weiße Haare bleibt bezeichnend, vor allem bei Frauen. Es gibt kein Pendant zu dem Ausdruck „silver fox“ auf Englisch, für einen gutaussehenden Mann mit ergrauendem Haar, Typus George Clooney. Das Tragen von weißem Haar wird leicht als ein „sie lässt sich gehen“ wahrgenommen. 2015 wurde Herzogin Kate, Duchess of Cambridge, öffentlich getadelt, weil sie es nicht lange nach der Geburt ihrer Tochter gewagt hatte, ein paar weiße Haare in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. In der Daily Mail wurde kommentiert: „Kate muss das graue Haar loswerden – das ist kein guter Look“.

Weißes Haar – das ist doch ein guter Look. Andrea, Oliver, Salar und Nicolai führen uns die Schönheit und Variabilität von weißem Haar in dieser Ausstellung vor Augen. Die Ausstellung zeigt auf neue Weise Menschen mit weißem und nicht grauem Haar – mit seinen negativen Konnotationen – und feiert diese Farbe. Das hat einiges an politischer Schlagkraft. Das kann eine Form des Angehens gegen jene normativen Schönheitsideale sein, die besagen, dass Menschen, aber besonders Frauen und Mädchen, immer ein bestimmtes Aussehen haben müssen, um als attraktiv, begehrenswert und feminin zu gelten.

Wie sie die Entstehung dieses Projektes beschreiben, hatte das Thema weiße Haare für Andrea und Oliver sowohl etwas Persönliches wie auch etwas Vorwärtsweisendes. Für Oliver stellte die Beschäftigung mit Weiß eine Abkehr von einer unliebsam gewordenen Tätigkeit dar – des ewigen Haarfärbens – als Ausdruck eines Nichtzusichselbststehens, was ihm zunehmend fremd wurde. Für Andrea war es ein Akt der Befreiung. Nachdem sie selbst die Maske ihres gefärbten Haares weggelegt hatte, wollte sie andere dazu einladen, das Gleiche zu tun und diesen Akt zu zelebrieren.

Andrea, Nicolai, Oliver und Salar präsentieren hier weiße Haare, ob von älteren oder jüngeren Menschen getragen, als ein Merkmal von Originalität, von Authentizität, von Stärke und – wie wir so klar in diesen Porträts von Salar Baygan wahrnehmen müssen – von vielschichtiger, ausgesprochener Schönheit. Mit sehr reduzierten Farben und wenigen sehr ausdruckstarken Requisiten stellen die Fotos die Menschen, die sie porträtieren, als stark wandelbare Individualisten dar. Die Spannung zwischen den Figuren, die in den Doppelporträts enthüllt wird, zeigt diese Menschen auch in Beziehung und in Bewegung. Sie sind nicht statisch, sondern haben verschiedenen Identitäten.

Diese Fotos laden uns ein, das Selbst als das Andere und als eine Vielzahl von alternativen Identitäten zu sehen und die Grenzen des Wahrgenommenen zu erweitern. Für dieses Projekt ebenfalls Modell zu stehen, habe ich als eine neue Form des Sehenlernens erlebt. Die Vielfalt der Fotografien und die vielen verschiedenen Ausdrücke von Weiß, die in diesen Bildern erscheinen, kommen mir wie eine Metapher für menschliche Entwicklung vor. Individuell, doch wandelbar, Menschen verändern sich, können neue Rollen ausprobieren und brauchen sich nicht auf eine einzige festzulegen.

— Prof. Dr. Greta Olson,
Institut für Anglistik, Justus-Liebig-Universität Gießen